Christian Unverzagt

Der Wandlungsleib des Dong Yuan

Exkurs über Sammlungen

[ohne Fußnoten]


Wir unterbrechen den chronologischen Gang unserer Untersuchung, um einen Blick auf die kunsthistorische Möglichkeitsbedingung der Dong-Yuan-Rezeption verschiedener Zeiten zu werfen. Wir fragen danach, wie in China Kunst gesammelt wurde und welche Rolle Sammlungen in deren Geschichte spielten. Wir werden dabei dem Sinn eines Satzes von Lothar Ledderose nachspüren: “Much more than in the West, art collections in China shaped the very course of art history.”

Sammlungen sind eine Art kulturelles Gedächtnis. Ohne sie würden Werke keine Wirkung entfalten, schon gar nicht in China. Dort will es die traditionelle Werkform, dass nicht nur Kunst in dieses kulturelle Gedächtnis eingeschrieben wird, sondern umgekehrt auch dieses sich in Form von Kolophonen und Siegeln auf jene einschreibt. Spuren der Sammler reichern das Sein der Werke an.

Gleichzeitig gehört es zur Eigenart von Sammlungen, verschiedene Arten des Nichtseins in Kunstwerke einzulassen. Zunächst einmal sind für eine Sammlung mindestens so wichtig wie die Bilder, die in ihr sind, Bilder, die nicht in ihr sind. Sie sind das eigentliche Movens des Sammelns. Unter ihnen gibt es Bilder, die jemand anders hat; aber auch Bilder, die es nicht mehr gibt bzw. wahrscheinlich nicht mehr gibt, d.h. verlorene oder verschollene Bilder. Eine Sammlung findet sich mit keiner der beiden Arten des Nichtseins ab, beide strebt sie zum Sein zu bringen. Daraus ergeben sich, wie wir sehen werden, nicht selten ontologische Zwischenformen, bei denen die Werke nicht sind, was sie zu sein scheinen.

Eine Sammlung will gleichwohl nicht alles haben, sondern ein Profil. Das erfordert eine Auswahl. Sammeln heißt, das eine sammeln, das andere nicht. Das, was von niemandem gesammelt wird, geht über kurz oder lang vom Sein zum Nichtsein über, verschwindet in den schwarzen Löchern des Vergessens, wo es unaufhaltsam verfällt. Aber auch das, was in einer Sammlung ist, ist es nicht für alle, zumal im traditionellen China. Was in Sammlungen für die einen ist, hat Nichtsein für die anderen.

Vordergründig sind Sammlungen wie gläserne Gebäude, die uns Einblick in die Vergangenheit der Kunst gewähren. Aber tief in ihrem Inneren wirken sie nicht selten wie Black Boxes, in denen Bilder verschwinden oder, noch mysteriöser, in denen längst verloren geglaubte Bilder auf wundersame Weise wieder auftauchen.

Schließlich kommt auch den Sammlungen selbst kein ewiges Sein zu. Manche werden in naher oder ferner Zukunft unter anderem Namen weitergeführt, andere lösen sich in größeren Sammlungen auf, wieder andere werden in unauffindbare Einzelstücke zerstreut. Noch andere entmaterialisieren sich, bleiben aber erinnert; und schließlich gibt es solche, von denen nichts bleibt, keine Bilder und keine Erinnerung.

 

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Kunstsammlungen sind Abkömmlinge archaischer Schatzsammlungen, die es auf dem Gebiet des heutigen China schon seit den ersten Dynastien in jedem Palast gab. Schon früh waren unter den Schätzen auch Landkarten, Diagramme und Ahnenregister. Zusammen mit magischen Objekten dienten sie als Beweis für das Himmelsmandat des Herrschers. Seit der Qin- und Han-Zeit gab es Zhang Yanyuan zufolge Malerei von subtiler Qualität (妙). Der Han-Kaiser Wudi 武帝 (reg. 141–187) richtete eine „Geheimkammer“ (祕閣 mige) zur Bewahrung von Bild- und Schriftrollen ein Unter Bildern sind damals vor allem Ahnenporträts zu verstehen, mit denen die Geschlechterfolgen der Dynastien und zugleich Tugend und Laster der Vorgänger anschaulich gemacht wurden. Die ersten Objekte, denen seit dem zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung ein ästhetischer Eigenwert zugeschrieben wurde, waren Kalligraphien Zwischen dem vierten und sechsten Jahrhundert wurden die kaiserlichen Sammlungen dann um solche Bilder erweitert, deren Sammlerwert sich aus dem Ruhm mittlerweile namhafter, wenn auch sozial noch nicht hoch angesehener Maler ergab. Von dieser Zeit an lässt sich im modernen Wortsinn von Kunstsammlungen reden. Ihre politische Funktion haben sie gleichwohl nie verloren. Bis zur Abdankung des letzten Kaisers gab es höfische Sammlungen, und noch bis in die Gegenwart hinein spielen ihre Abkömmlinge, nun auf jeweils ein Palastmuseum in Peking und in Taibei verteilt, eine legitimatorische Rolle beim Ringen um die Macht.

 

Von ihren Anfängen bis zur Gegenwart lassen sich die Palastsammlungen unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität betrachten. Shi Shou-chien, der in der kaiserlichen Sammlung einen nationalen Schatz und noch heute geradezu das Symbol des Staates sieht, unterstreicht diesen Aspekt gegenüber periodischen Verlusten. „Letztendlich aber konnten diese Brüche den Zyklus von Sammeln, Verstreuen und erneutem Sammeln nicht durchbrechen, und die Kollektion blieb im Ganzen unverändert.“ Die zahlreichen Privat­sammlungen, die es gegen Ende der Ming- und Anfang der Qing-Zeit gab, erscheinen in dieser Perspektive wie Zwischenlager der Staatsschätze, aus denen dann die Sammlung Kaiser Qianlongs 乾隆 (reg. 1736–1796) zu gigantischen Dimensionen ausgebaut werden konnte. Die Idee, dass es sich durch die Geschichte hindurch immer um dieselbe Sammlung handelte, folgt der archaischen Theorie des Himmelsmandats. An eine physische Identität der gesammelten Objekte lässt sich die Identität der Sammlung allerdings kaum knüpfen.

 

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Kunstwerke gingen nicht nur zwischen kaiserlichen und privaten Sammlungen hin und her, sie gingen auch permanent verloren. Zhang Yanyuan, der in seine Abhandlung zur Malerei eine Geschichte der Sammlungen einbezieht, beschreibt diese als eine Kette von Katastrophen. Die Elemente Feuer und Wasser, in Szene gesetzt durch menschlichen Mutwillen und Ignoranz, verrichteten seiner Schilderung zufolge ein nicht enden wollendes Zerstörungswerk, das mit jeder Sammlungsaktivität einherging; und das, obwohl die um die Macht ringenden Parteien die Kunstschätze aufgrund ihrer Verknüpfung mit dem Himmelsmandat durchaus als sakrosankt anerkannten und nicht vernichten, sondern im Gegenteil sich aneignen wollten Die Fragilität des Materials und seine Konzentration im Zentrum der Macht sorgten immer wieder für hohe Verluste und führten z.T. sogar zur Zerstörung des ganzen Bestandes. Als gegen Ende der Han-Dynastie Rebellion und Bürgerkrieg das Land überzogen (189–192 n. Chr.), wurde der Regierungssitz zwischen Luoyang und Chang’an hin und her verlegt. Hatte die Schatzsammlung ursprünglich mehr als 2000 Wagen zu ihrem Transport benötigt, so waren es beim nächsten, panischen Umzug nur noch 70. Die Mehrzahl der Schätze war der Raffgier der Höflinge oder einem kruden Utilitarismus zum Opfer gefallen. Größere Seidenrollen waren zu Zelten verarbeitet worden, kleinere zu Tragetaschen. Die Hälfte der 70 Wagenladungen wurde dann bei einsetzendem Regen und schwierigen Straßenverhältnissen in den Schlamm geworfen und zurückgelassen. Mehr als hundert Jahre später, im Jahr 316, wurde die wieder aufgebaute kaiserliche Sammlung bei einem Barbareneinfall in der Hauptstadt Luoyang verbrannt. Wiederum bei einem Barbareneinfall (dem Einmarsch der Westlichen Wei) ging die erneut reorganisierte, riesige Sammlung des Liang-Kaisers Yuan 元 (508–554) in Flammen auf. Diesmal aber soll es der Kaiser selbst gewesen sein, der 240.000 Rollen den Flammen übergab. Zu seinem Tun rief er die sinnreichen Worte aus: „Das ist das Ende der Kunst und Kultur!“ Der siegreiche Wei-General konnte nur noch 4000 der Rollen vor den Flammen retten

Wo es nicht die Eroberungslust der Fremden war, da brachte mitunter der Wandertrieb autochthoner Herrscher die Kunst in Gefahr. Als der reiselustige Sui-Kaiser Yang 煬 (reg. 605–616) wieder einmal auf den Flüssen und Kanälen seines Reichs von einer seiner beiden Hauptstädte zur anderen unterwegs war, kenterte das Schiff, auf dem er seine Sammlung mit sich führte, und der Großteil der Rollen verschwand in den Fluten. Es handelte sich dabei durchaus um kein singuläres Ereignis. Im Jahr 622, als die junge Tang-Dynastie (618–907) noch dabei war ihre Macht zu festigen und beschlagnahmte Schrift- und Bildrollen auf dem Gelben Fluss in Richtung Hauptstadt beförderte, nahm kurz vor Erreichen des Ziels der Strom 80 bis 90 Prozent des Staatsschatzes an sich

Für die Yuan-, Ming- und Qing-Zeit sind keine dieser Elementeneinbrüche mit ähnlich gravierenden Auswirkungen bekannt, dafür holte dieses Schicksal die kaiserliche Sammlung nach dem Ende des Kaiserreichs wieder ein. Elf Jahre nach der Abdankung des letzten Kaisers kam es 1923 in den Kunstdepots der Verbotenen Stadt, als die Bestände inventarisiert werden sollten, zu einem verheerenden Brand, dessen Schaden nie genau beziffert werden konnte. Im folgenden Jahr beschlagnahmte die republikanische Regierung die numerisch immer noch ungeheuren Schätze und begann mit ihrer Inventarisie­rung. In der politisch instabilen Situation mit den Japanern im Anmarsch und den verfolgten Kommunisten im Rücken schaffte sie 1933 in Nacht- und Nebelaktionen fast 20.000 Kisten aus der Verbotenen Stadt. Dreißig Jahre sollte ihre Odyssee durch die Fährnisse des Chinesisch-Japanischen Kriegs und des anschließenden Bürgerkriegs währen. Knapp 3000 Kisten mussten vorübergehend in Nanjing zurückgelas­sen werden. Autounfälle und Schiffsunglücke lauerten auf dem Weg, dann drohten Luftangriffe. Doch die Schätze, die einst von den Himmelssöhnen auf dem Drachenthron bewacht worden waren, überstanden sie in Berghöhlen gelagert. 1965 wurde für sie schließlich in Taiwan nicht nur ein neues Palastmuseum, sondern mit diesem verbunden auch ein Stollensystem im Berg gebaut. Shih Shou-chien: „Das neue Gebäude in Taipeh dient zwar als öffentlicher Ausstellungsraum, setzt jedoch auch ein klug durchdachtes Konzept zum Schutz vor Luftangriffen um. Die Paläste und Hallen in der Verbotenen Stadt sind Holzbau­ten, in denen es zahlreiche Türen und Fenster sowie freie Durchgänge zwischen den Räumen gibt. Ganz anders das Hauptgebäude des Palastmuseums: Nicht nur sind die Betonwände besonders stark, sondern sie haben auch sehr wenige Türen und Fenster, sind also nach außen weitgehend abgeschirmt. Es gleicht fast einer Festung, die in erster Linie zum Schutz errichtet wurde. Dieses Bollwerk und sein Stollenlager bilden ein bauliches Ensemble, das sich deutlich vom Kaiserpalast in Peking unterscheidet.“ Hatten Sammler ihre Schätze anfangs nur durch geschickte Montierungen und Holzkästchen gegen das Zerstörungswerk der Zeit abgeschirmt, so braucht die mit politischem Legitimationswert aufgeladene Sammlung in der Moderne eine eigens konstruierte Architektur mit integriertem Luftschutzbunker.

 

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Das Schicksal der kaiserlichen Sammlungen erschöpfte sich nicht in der Zerstörung durch Elementarkräfte. Immer wieder gab es Kaiser, die großzügig verschenkten oder mit ins Grab nahmen, was sie für ihren Privatbesitz hielten. Daneben bedienten sich einflussreiche Beamte, Günstlinge und Eunuchen bei den höfischen Beständen und dünnten sie z.T. empfindlich aus. Pu Yi spricht von einer „Dauerplünderung“, die im Palast bis zu der Vertreibung der Eunuchen im Jahr 1924 stattfand. In der Nähe der Verbotenen Stadt eröffneten damals Antiquitätenhandlungen, deren Besitzer und Geschäftsführer Eunuchen und Hofbeamte oder deren Familienangehörige waren. Neben einer Vielzahl von Variablen kennt die Geschichte zwei Arten von Konstanten, von denen die eine immer vorkommt und die andere immer wieder. Die Behandlung der kaiserlichen Sammlung als Selbstbedienungsladen für mächtige Beamte, Günstlinge und Eunuchen ist zumindest immer wieder belegt. Zhang Yizhi 張易之 beispielsweise, der Favorit der Kaiserin Wu Zetian 武則天 (reg. 684–704), bestellte Künstler zu Restaurationszwecken an den Hof, wo sie je nach Sujetspezialisierung exakte Kopien der ihnen vorgelegten Bilder herzustellen hatten. Diese wurden dann so wie die Originale montiert. Die Originale behielt Zhang Yizhi für sich und ließ die Kopien ins Depot bringen. Nach seinem Tod wurde seine Sammlung unter der Hand weitergegeben, bis sie an einen Prinzen gelangte, der die Rollen schließlich aus Furcht entdeckt zu werden verbrannte Vom Ausgang der Geschichte her betrachtet war der Besitzerwechsel also nur ein Umweg zur Vernichtung durch Elementarkräfte.

Die nachfolgende Episode drehte den Spieß um. Unter den Kaisern Ruizong 睿宗 (reg. 710–712) und Minghuang 明皇 (reg. 713–755) wurde die Sammlung wieder aufgebaut, aber nur um wiederum durch Feuer und Krieg zerstört zu werden: Im Jahr 756 kam es während der Revolte des An Lushan 安祿扇 (756–763) zu immensen Verlusten. Das, was überlebt hatte, verbrannte sechs Jahre später bei Plünderungen durch die Tibeter. Diesmal überlebten nur Gemälde, die unter Kaiser Suzong 肅宗 (reg. 756–762) in die gierigen Hände seiner Familienmitglieder und von dort für viel Geld in Privatbesitz gelangt waren.

 

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Nehmen bereits die Elementeneinbrüche in Kriegs- und Krisenzeiten zu, so gilt dies noch mehr für die Zerstreuung der Sammlungen durch Abfließen ihrer Bestände in Privatbesitz. Ist die Situation am Hof desolat, so gelingt es dem Kaiser in der Regel nicht, die Schätze zusammenzuhalten. Ledderose hat diese Gesetzmäßigkeit so formuliert: „Die Schwankungen im Umfang der Kaiserlichen Sammlungen spiegeln wie ein Oszillograph die Schwankungen in der politischen Macht der Zentralgewalt.“ Der dem Daoismus zugeneigte Huizong, einer der drei großen Kunstsammler unter den Kaisern, stünde als Inbegriff politischer und militärischer Schwäche für die Ausnahme von dieser Regel. In dem Umstand, dass seine riesige Sammlung noch zu seinen Lebzeiten vernichtet wurde, kann man jedoch genausogut ihre Bestätigung sehen. Qianlong, unter dem das Reich seine größte Ausdehnung erfuhr, verhält sich mit der wohl größten Kunstsammlung, die es weltweit je gab, absolut regelkonform; ebenso wie Tang Taizong, der mit ca. 300 Rollen begann und es zur bis dato größten Sammlung der chinesischen Geschichte brachte. Hatte Qianlong den Thron einer politisch gefestigten Dynastie bestiegen, so befand sich Taizong nach der Entthronung seines Vaters noch am Anfang einer Dynastie, die auf Jahrhunderte der politischen Zerrüttung gegründet war. Tatsächlich gelang ihm die Festigung der unter den Sui (581–618) wiederhergestellten Reichseinheit und darüber hinaus eine gewaltige Ausdehnung des Territoriums. Der Ausbau der Sammlung durch Tai­zong erfolgte zweifelsohne im Bewusstsein seiner historischen Sendung. Nach Ledderose kann der Ausbau kaiserlicher Kunstsammlungen beim Regierungsantritt eines neuen Herrschers in säkularisierter Zeit analog zu der himmlischen Einverständnisbekundung mit einer neuen Dynastie durch Omina in archaischer Zeit gesehen werden. Daran, dass der Himmel ihn als ganz Großen ausersehen hatte, wollte Taizong durch die Dimension seiner Sammlung keinen Zweifel lassen. Entsprechend exerzierte er konsequenter als alle Vorgänger bei der Reorganisation der Hofsammlung zwei Methoden durch, die das Bild der chinesischen Kunst auf der Habenseite ebenso prägten wie die Vernichtungen durch Feuer und Wasser auf der Seite der Verluste: Requirierung und Fälschung.

Fehlte es an Kunstschätzen in der kaiserlichen Sammlung, so hielten sich die Herrscher an die Sammlungen ihrer Untertanen. Requirierung muss dabei als janusköpfige Maßnahme verstanden werden. Wer seine Schätze freiwillig übergab, durfte seit alters mit reichen Belohnungen rechnen. Von Liu Yizong 劉義宗 (gest. 444), Vetter des Dynastiegründers der Liu Sung (劉宋), heißt es, er habe Sammlern Preise in beliebiger Höhe für Kalligraphien angeboten. Unter den Kaisern Taizong und Xuanzong 玄宗 (713–755) konnten Spender sogar Titel und Ämter erlangen.

Es ging aber auch anders, wie die Geschichte vom Raub des Vorworts zum Orchideenpavillon erzählt. Die berühmte Kalligraphie des Wang Xizhi 王羲之 (303–361) war angeblich in geheimer Überlieferung von Generation zu Generation innerhalb der Familie weitergereicht worden, als sie schließlich von einem der kaiserlichen Emissäre, die das Land auf der Jagd nach Kunstschätzen durchzo­gen, geraubt wurde.搜訪 Soufang, „durchsuchen und ausfindig machen“, hieß die Methode, mit der Kunstwerke aufgespürt wurden, um sie in die kaiserliche Sammlung zu bringen. Dem kaiserlichen Verständ­nis nach war dies ein Zurückkehren (歸 gui) der Schätze, handelte es sich beim Hof doch um ihren schick­salhaft angestammten, d.h. vom Himmel vorherbestimmten Platz. An Ausflüchte oder gar Weigerung war nicht zu denken.

Vom Schicksal der Requirierung war auch die Sammlung von Zhang Yanyuans Großvater betroffen. Er musste, nachdem seine Sammlung von einem Neider bei Hof angezeigt worden war, dem Kaiser die wertvollsten Stücke vermachen. “The works of calligraphy and the paintings were all received into the Inner Storehouse, and the world has seen no more of them.” Unüberhörbar klingt Bitterkeit durch die lakonischen Worte Zhang Yanyuans hindurch. Sie bezieht sich scheinbar weniger auf die geänderten Besitzverhältnisse, als vielmehr darauf, dass kaiserliche Sammlungen in Zhang Yanyuans Augen eine Art Vernichtung der Kunstschätze für ihre Liebhaber bedeuteten. Was die physische Existenz der Bilder angeht, erwies sich ihre Requirierung in diesem Fall allerdings als lebensverlängernde Maßnahme, denn während politischer Unruhen verlor der Großvater den verbliebenen Rest seiner Sammlung.

Kaiser Qianlong, auch in Sachen Requirierung kein Mann der Kleinlichkeiten, brachte sich mit der Enteignung von An Qi 安岐 (1683–1742) in den Besitz einer der größten Privatsammlungen der gesamten chinesischen Geschichte. Fast immer eine einträgliche Quelle für den Ausbau kaiserlicher Sammlungen tat sich auch bei der Verbannung oder Hinrichtung hoher Beamter auf. Als der unter Kaiser Zhengzong偵宗 (997–1022) zum Premierminister aufgestiegene Ding Wei 丁謂 (969–1040) unter Kaiser Renzong 仁宗 (reg. 1022–1063) wieder entmachtet wurde, ging seine gewaltige Kalligraphie- und Malereisammlung, die nach Guo Ruoxus Zeugnis allein mehr als 90 Winterlandschaften von Li Cheng enthalten haben soll, in höfischen Besitz über. Ebenso erging es der Sammlung des lange Zeit mächtigsten Mannes der Südlichen Song-Dynastie, des Ministers Jia Sidao 賈思道, der 1275 zu Fall kam und umgebracht wurde. Da sich mit den Mongolen vor den Toren aber selbst mit immens vergrößerter Hofsammlung das Himmelsmandat nicht verlängern ließ, nahm die regierende Kaiserinwitwe einige wertvolle Stücke an sich, die sie dann vor der Machtübergabe nahen Verwandten zur Aufbewahrung übergab. Diese verkauften einige von ihnen zu Beginn der Yuan-Zeit auf dem schnell blühenden Kunstmarkt weiter.

 

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Private Sammler müssen Requirierungen zugunsten der kaiserlichen Sammlung als ambivalent wahrgenommen haben. Auf der einen Seite sollten sie ihre eigenen Schätze auf Nimmerwiedersehen hergeben, auf der anderen Seite ließen sich damit nicht unbeträchtliche Summen oder gar Titel und Ämter verdienen. Es gab jedoch eine Methode, mit der sich die Nachteile abwenden und zugleich die Vorteile erlangen ließen: wenn man Fälschungen abgab. Der Gedanke ist nicht so gewagt, wie er zunächst vielleicht wirkt. Zumindest war er es nicht für Su Shih, der die Kalligraphien der höfischen Sammlung seiner Zeit mit einer einzigen Ausnahme für Fälschungen hielt.

Aktenkundig sind Fälschungen für Herrscher seit Mitte des fünften Jahrhunderts. Damals hatte Fürst Hui 慧 von Xinyu 新渝 (gest. 444) Händler beauftragt, ihm Kunstwerke zu besorgen. Was er bekam, waren Fälschungen. Im Jahr 470 berichtet Yu He 虞龢 seinem Kaiser Ming 明, für dessen Kalligraphiesammlung er zuständig war, von Fälschungspraktiken, bei denen man das Papier künstlich altern ließ. Vor allem erklärt er ihm, dass in der Sammlung seines kaiserlichen Vorgängers Xiaowu 孝武 (reg. 454–465) Originale und Fälschungen wild durcheinandergewürfelt gewesen seien. Er aber habe diesen Zustand behoben. Indirekt rühmt er sich damit einer Kennerschaft, die seinen Vorgängern nicht zuei­gen gewesen sei Die abschätzige Rede von der mangelnden Kennerschaft der anderen, deren Rückseite das Lob der eigenen ist, zieht sich fortan als Topos durch die chinesische Kunstgeschichte.

Natürlich gibt es für Werke, die es nicht mehr gibt, sowenig einen Beweis ihrer Authentizität wie einen Gegenbeweis. Aber es gibt Plausibilitäten. Dass man bei der erwähnten Reorganisation der kaiserlichen Sammlung unter Ruizong (reg. 710–712) und Minghuang (reg. 713–755) auf die stattliche Zahl von 258 Rollen von Wang Xizhi kam, lässt sich nicht anders als durch Fälschungen erklären. Zum Teil müssen Fälschungen und ihre Überbringer kuriose Karrieren gemacht haben. Xu Hao 徐浩 (703–782) beschwert sich darüber, dass Fälschungen, die er persönlich aus der kaiserlichen Sammlung entfernt hatte, dem Hof erneut überbracht, nicht erkannt und ihre Überbringer noch mit Geschenken oder gar Ämtern belohnt worden seien Es gibt kaum einen Kritiker der chinesischen Kunstgeschichte, der sich nicht zu Fälschungen in namhaften Sammlungen äußert. Zhou Mi berichtet nach einem Gang durch die Palastbibliothek der Südlichen Song im Jahr 1275, dass trotz schärfster Sicherheitsvorkehrungen überall Fälschungen eingeschmuggelt worden seien.

Die Erklärung für die Ubiquität von Fälschungen liegt nicht in mangelndem Kunstsinn oder in der Weltfremdheit der Kaiser, die als einzige nichts von den durch ihre Sammelmethoden provozierten Praktiken gewusst hätten. Kaiser Taizong beispielsweise hatte eine Expertenkommission für die Prüfung der eingehenden Werke. Trotzdem wurden auch ihm Fälschungen überreicht, aber auf hohem Niveau. Mehr ließ sich oft nicht erreichen, und mehr war wohl oft auch gar nicht das Ziel. Wie sehr der Prestigewert einer Sammlung ihren Eigner unter Druck setzte, drückt eine Formulierung von Zhang Yanyuan aus:


凡人間藏蓄,必當有顧陸張吳著名卷軸。

 

Auf Erden gilt, dass eine Sammlung berühmte Rollen von Gu [Kaizhi], Lu [Tanwei], Zhang [Sengyou] und Wu [Daozi] haben muss, bevor man sagen kann, sie habe Bilder.

  

Unter der historischen Vorgabe, dass es periodisch zur Zerstörung Tausender und Abertausender von Bildern kam und dass die Sammler allmählich lernten, ihre verbliebenen Schätze zu schützen, waren Fälschungen das einzige Mittel, das herbeizuzaubern, was nicht mehr zu haben war, was man aber gleichwohl haben musste. Prestige wog schwerer als Wahrheit. Ledderose: “One cannot help getting the impression that the cultural and political weight of an imperial art collection was not likely to be sacrificed for the sake of an impeccable pedigree of all the objects in it.” Kurzum, es gab ein höfisches Interesse an Fälschungen, und es waren keineswegs nur die schwachen Herrscher, denen man Fälschungen überreichte oder deren Bestände man durch solche ersetzte. Auch und gerade die starken, kunstliebhabenden Kaiser ließen ihre Depots mit Fälschungen füllen.

Dieser Sachverhalt wurde von den Kennern und Kritikern sicher häufiger durchschaut als sich belegen lässt. Der yuan-zeitliche Gelehrte Tang Hou, der gegenüber der zu seiner Zeit gering geschätzten Südlichen Song-Dynastie zu keiner größeren Zurückhaltung genötigt war, behauptete, deren Kaiser Gaozong habe im Rahmen seiner Sammlungsreorganisation Mi Fus Sohn Mi Youren gezwungen, authentifizierende Ko­lophone gegen seine kennerschaftliche Überzeugung zu schreiben

Kennerurteile konnten nicht nur Fälschungen in kaiserliche Sammlungen einschmuggeln, sie konnten auch Originale herausschaffen. Von 1934 bis 1936 fand in Peking und Shanghai ein Prozess gegen den 1933 zurückgetretenen Direktor des Palastmuseums statt, der sich persönlich an den seiner Obhut anvertrauten Schätzen bedient hatte. Im Prozessverlauf wurden dem berühmten Kenner Huang Binhong 黃賓虹 (1864–1955) etliche Kunstwerke zur Authentifizierung vorgelegt. Senkte er den Daumen, so wurden sie konfisziert und nicht wieder in die Palastsammlung aufgenommen. Als man sich entschloss, anderen Expertisen Glauben zu schenken, war es zu spät. 594 Bilder und Kalligraphien, 218 Bronzeobjekte, 101 buddhistische Bronzestatuen, ein Jadebuddha und einige Edelsteine waren aussortiert worden und blieben bei der Odyssee der Kunstschätze durch das umkämpfte China zurück.

 

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Immer gab es eine Gegenströmung zur Sogwirkung kaiserlicher Sammlungen, immer flossen Bilder wieder zurück in Privatbesitz. Privatbesitz aber war nicht gleich Privatbesitz. Von denen, die ihre Nähe zum Hof benutzten, um aus Eitelkeit und zum Zeichen ihrer eigenen Macht riesige Sammlungen zusammenzutragen, waren jene zu unterscheiden, für die Kunst eine Welt außerhalb der politischen Intrigen und der Korrup­tion darstellte. Nach dem Zusammenbruch der Han-Dynastie hatte sich in Zirkeln freier Geister eine Kunstauffassung herausgebildet, die sich unterhalb der staatlichen Repräsentationsebene bewegte und als dessen Gegenprinzip verstanden werden kann. Nicht nur im Verhältnis von Künstler und Kunstwerk wurde mit der Spontaneität ein direkter Himmelszugang (天真 tianzhen) entdeckt; auch die Art, wie gesammelt und wem es gezeigt wurde, sollte sich am Eigenwert des Ästhetischen orientieren.Zhang Yanyuan formulierte mit Blick auf die kleinen und großen Katastrophen der Kunstsammlungen: “Paintings and scripts should be entrusted to none but those who love them. In den kurzen Phasen, in denen Privatiers ohne Angst vor Konfiszierungen sammeln konnten, pflegten Gelehrte immer wieder auch kollektiv diese ästhetischen Ideale In ihren Ateliers wurde gemalt, geschrieben, gesammelt und anderen ge­zeigt, was man an Schätzen hatte. Abseits der Politik und jenseits des legitimatorischen Werts von Sammlungen kultivierten sich Männer und Frauen auf dem Weg des Pinsels Solche Ateliers und vielleicht auch kleinere Zirkel gibt es bis heute. In den berühmten Literatenkreisen aber, die das Bild der chinesischen Kunstgeschichte mit einem Kanon von Namen und einer daran orientierten Sammlungspolitik wesentlich bestimmen sollten, gewann spätestens seit der Ming-Zeit der Prestigewert ihrer Sammlungen wieder die Oberhand über den reinen Kunstwert der Werke. Dieser Prestigewert privater Sammlungen hatte, wie wir sehen werden, entscheidenden Einfluss auf das Image und den Wandel im Zuschreibungskorpus von Dong Yuan.

 

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Bemerkenswert ist, dass höfische und private Sammlungen mehr oder weniger denselben ästhetischen Standards folgten. Auch wenn Literaten lange Zeit, namentlich in der Yuan- und Ming-Dynastie, für sich in Anspruch nahmen, in unverwechselbarer Manier zu malen, wurden sie und die von ihnen favorisierten Maler doch genauso am Hof und von den dort Einflussreichen gesammelt. Die Abgrenzung derer, die sich für Kunstliebhaber hielten, von denjenigen, denen sie es bestritten, erfolgte nicht so sehr, zumindest nicht dauerhaft, über Stil oder Geschmack, als vielmehr über die Kennerschaft. Schon im fünften Jahrhundert waren wir bei Yu He dem Topos von der mangelnden Kennerschaft der anderen begegnet. Zhang Yanyuan warf den meisten Sammlern seiner Tage vor, auf das Gerede anderer Leute zu hören, aber unfähig zu sein ihre eigenen Augen zu gebrauchen. Unerbittlich durchdekliniert hat Mi Fu das Thema, für den es außer ihm selbst eigentlich gar keine Kenner gab. Auch Tang Hou sprach kaum milder von anderen Connaisseuren. Dem toten Jia Sidao sagte er abschätzig nach, dass die Hälfte der Bilder in seiner Sammlung gefälscht gewesen sei. Shitao 石濤 (alias Daoji 道濟 1642–1707) bestritt seinen Zeitgenossen, je etwas anders als Fälschungen gesehen zu haben; und wenn doch, dann hätten sie gar nicht gewusst, worum es sich handelte.

Der Topos lässt das Bild einer Gemeinde von Eingeweihten entstehen, die mit ihrer Kennerschaft alleine blieben. Meist nur über die Zeit hinweg mögen solche Kenner andere als ihresgleichen anerkannt haben. Gab es für diese Einsamen unter ihren Zeitgenossen ein, zwei Würdige, denen man die wahren Schätze der eigenen Sammlung zeigen konnte ohne die Zither für Ochsen zu spielen, so durften sie sich glücklich preisen. Würdige waren nur solche, deren Kennerschaft das gezeigte Werk zu schätzen wusste, und deren Liebe zur Kunst garantierte, dass sie dessen Besitzer nicht beim Hof anschwärzten um die Kunsthäscher herbeizurufen.

Die Zahl derer, die sich als solch Einsame empfanden, war Legion. Wollten sie ihre Schätze schützen, wie Zhang Yanyuan es unverblümt forderte, so mussten sie schweigen und ihre besten Stücke geheim halten. Vielleicht war bei manchen nicht einmal bekannt, dass sie eine Sammlung hatten In den meisten Fäl­len wird es sich um geheime Sektionen einer ansonsten bekannten Sammlung gehandelt haben. Von den perfekt geheim gehaltenen Sektionen wissen wir naturgemäß nichts, von annähernd perfekt geheim gehaltenen wissen wir. Gao Shiqi 高士奇 (1645–1703), persönlicher Sekretär und Freund des Qing-Kaisers Kangxi 康熙 (reg. 1662–1722), teilte die Bilder seiner Sammlung in neun Kategorien ein. Die höchste von ihnen nannte er „geheime Schätze, die dauerhaft bewahrt werden sollen“. Diese Bilder waren ausschließlich der Betrachtung durch ihn selbst vorbehalten, kein anderer Mensch bekam sie je zu Gesicht oder erfuhr von ihnen. Zwei andere Gruppen waren mit dem Vermerk „Fälschungen von geringem Wert“ versehen. Es handelte sich zum einen um Bilder, „die verschenkt werden können“, zum anderen um solche, die „(dem Kaiser) zu überreichen“ waren. Li Chu-tsing sieht darin „a very common practice of deceiving the emperor“ Um das Gegenprinzip zur kaiserlichen Sammlung aufrecht erhalten zu können, kam es zu einer Coincidentia Oppositorum. Die privaten Sammlungen hielten ihre wertvollsten Stücke genauso geheim wie die Kaiser und beförderten damit nicht gerade das allgemeine Niveau der Kennerschaft.

Noch in anderer Hinsicht wurden private Sammlungen zum Zerrspiegel der höfischen. Auch in ihnen fanden sich schöne und plumpe Stücke, Originale und Fälschungen in buntem Durcheinander. Und so wie am Hof auf kunstliebhabende Kaiser irgendwann Ignoranten folgten, hatten auch große Privatsammler nicht immer kunstsinnige Erben. Was der eine zusammentrug, zerstreute sich unter den Händen der Nachkommen. Die Elemente Feuer und Wasser sowie der Zahn der Zeit, der unbarmherzig an den Materialien nagt, ließen die Privaten ebensowenig verschont wie die Kaiser. Die fremden Heere, die plündernd und brandschatzend durch die chinesische Geschichte ritten, machten ebensowenig Umwege um die Ateliers der Gelehrten wie um die Paläste der Herrscher Aus Furcht vor Strafe zerstörten Sammler, angefangen von den Erben Zhang Yizhis bis zu den von Roten Garden terrorisierten Gelehrten in der Kulturrevolution (1966–1976), immer wieder selbst ihre wertvollsten Stücke; so wie einst aus Hochmut gegenüber den Fremden Kaiser Yuan seine 240.000 Rollen. Der Fetisch berühmter Originale und der daraus resultierende Irrsinn ergriffen von Privaten und Kaisern gleichermaßen Besitz. Im Jahr 1650 warf der sterbende Sammler Wu Hongyou 吳弘猷 Huang Gongwangs berühmte Rolle In den Fuchun-Bergen weilen zusammen mit Tang Yins Edle Gelehrte ins Feuer. Jede nur denkbare Nachwelt war ihm seiner Schätze unwürdig. Dieselbe Haltung mag Kaiser Taizong bewogen haben, Wang Xizhis Vorwort zur Gedichtsammlung vom Orchideenpavillon mit ins Grab zu nehmen und das berühmteste Werk der Kalligraphie zu einem verschwundenen Original zu machen.

Ist der scheinbare Irrsinn nur die logische Konsequenz aus der unendlichen Liebe zur Kunst und aus der unvergleichlichen eigenen Kennerschaft, die die größten Schätze vor den Augen Unwürdiger in Sicherheit bringen musste? Konnte das unermesslich Wertvolle am Ende nur in der Unsichtbarkeit zum vollendeten Kunstwerk werden?

Das Herz einer Sammlung schlägt im Sammler. Es schlägt für seine Werke, letztlich aber für ein Werk, das er nicht hat, ein legendäres Werk; das Meisterwerk schlechthin, in dem sich die ganze Kunst versammelt. Je ferner es ist, desto größer die Leidenschaft. Ist es unerreichbar, wird er besessen von dieser Leidenschaft. Besitzt er es aber schließlich, so muss es für alle anderen noch ferner werden, als es für ihn war. Unerreichbar für andere und zugleich für immer bei ihm ist es nur im Grab. Wer dabei der Ewigkeit des Grabs nicht traut, muss es als Asche mitnehmen. Der Weg des perfekten Meisterwerks führt aus dem Nichtsein zur Sammlung und von dort zurück ins Nichtsein. Aber ein derart unsichtbar gewordenes Werk hört mit seiner Grablegung nicht auf in Sammlungen zu existieren. Es lebt in Form von Kopien weiter, als Legende – und in dem Verlangen nach dem Unmöglichen.

Die kunstgeschichtliche Wirkung eines Werks bedarf keineswegs des sichtbaren Originals. Nimmt man das Vorwort zur Gedichtsammlung vom Orchideenpavillon, so möchte man sogar meinen, im Gegenteil: Je weiter weg vom Original, desto größer die Wirkung. Die Kopien, über die es wirkt, sind wahrscheinlich allesamt selbst wieder Kopien von Kopien. Keiner der Kopisten muss das Original je gesehen haben.

Ist die Spur dieses singulären schöpferischen Momentes, in dem das Vorwort zur Gedichtsammlung vom Orchideenpavillon entstand, in der Unsichtbarkeit nicht am besten aufgehoben? Nur in ihr bleibt der unendliche Abstand des Originals von jeder möglichen Kopie mit Sicherheit erhalten. Dieser unendliche Abstand, der von der vollendeten Spontaneität des Werks zeugt, drückt sich in dem Umstand aus, dass Wang Xizhi selbst am nächsten Tag trotz Hunderter Kopierversuche nicht an die Vorlage vom Vortag herangekommen sein soll.

Wie wäre es um das Absolutum dieses Meisterwerks bestellt, wenn das Original neben all seinen Kopien noch existierte? Wären alle Kenner in der Lage es zu erkennen? Nehmen wir an, es käme ein Gerücht auf, wonach man Kaiser Taizong das Original doch nicht mit ins Grab gegeben oder es wieder aus diesem herausgeholt hätte. Wie stünde es um die Chancen, es nun unter all den Kopien, die bekanntlich untereinander Unterschiede aufweisen, herauszukennen?

Der Überlieferung nach konnte Wang Xizhi selbst zweierlei nicht: a) sein Vorwort zur Gedichtsammlung vom Orchideenpavillon kopieren, b) gelungene Fälschungen seiner Kalligraphien als solche erkennen. Wenn es den größten Kennern ihrer Zeit nicht anders ginge, löste sich dann nicht der Nimbus des perfekten Werks auf? Das noch existierende Original würde zu einer Version unter anderen. Jede Behauptung unter den existierenden Versionen das Original identifiziert zu haben, löste neben ohnmächtiger Bewunderung auch skeptische Krittelei aus, die glaubte auf unvollkommene Stellen verwei­sen zu können. Wie könnte das Original beweisen, dass es ein vollendetes Meisterwerk ist?

Vor der Dekonstruktion des Absoluten schützt nur die Unzugänglichkeit.

Wir werden sehen, dass Dong Yuans Ruhm als einer der größten Meister der chinesischen Malerei vom Zusammenspiel zweier Tendenzen geprägt war: der Tendenz unsichtbar zu werden und jener anderen Tendenz sich empirisch in immer neuen Annäherungen an seine Idealisierung zu verkörpern. In dem Moment aber, in dem ein Kenner auftrat, der eine solche Annäherung zur Epiphanie eines verschollenen Meisterwerks erklärte, geriet der Meister in Gefahr profaniert zu werden.

Buchveröffentlichungen von Christian Unverzagt

demnächst erscheinen:

Südlich der Wolken. Auf der Suche nach dem anderen China

 

Alien Mensch. Vom Sondermüll zur Selbsterkenntnis

 

 Der Farben Land und Meer

 

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