Volker Grassmuck und Christian Unverzagt

Die Rückkehr des Mülls

Radiosendung im „Nachtflug“  vom 31. 8. 1988, Radio 100 Berlin 

Niemand weiß, wo überall wieviel Müll welcher Art schon entsorgt worden ist. Aber wie ein Jojo kommt der Müll zurück. Aus Österreich und seit 1988 auch aus den ehemaligen Kolonialländern.


Die Gesamtheit der Dinge existiert nicht mehr synchron. Es stellt sich die Frage, welche Teilmenge die andere zum Anachronismus erklären kann. Früher mag der Müll das Veraltete gewesen sein, das man wegwarf, um es der Verwesung zu übergeben. Aber der chemische Gift- und schließlich der Atommüll haben alles verändert. Dieser Müll ist es, der über unabsehbare, z.T. zigtausende von Jahren Bestand haben wird und damit uneinholbar vor der Zivilisation, die ihn hervorgebracht hat, im Rennen liegt. Der Gift- und der Atommüll haben eigene Zeitreihen mit eigenen Ereignisstrukturen eröffnet. Sie reichen vom unendlich geduldigen Zerfall der Atome über das langsame Absickern der Phosphate durch gärende Milieus hinab ins Grundwasser bis zu den plötzlichen Unfällen, die in einem Augenblick dort, wo eben noch Ordnung war, Chaos entstehen lassen. Der Gift- und der Atommüll haben nichts mehr mit der welken Materie gemein, die stumm an ihrem Ort verdorrt. Die Konzentration des Mülls in Lagern ist auf Dauer zum Scheitern verurteilt, denn er ist nichts anderes als die Drohung der jederzeit möglichen, unberechenbaren Entgrenzung der Raum-Zeit-Ordnung der Moderne. Er gehört nicht dazu. Aber jetzt ist er da und mit ihm das Problem, wie man ihn am besten wieder verschwinden läßt. Man kann ihn lagern, verbrennen, mit unverseuchtem Stoff verschneiden; aber irgendwann – längst schon – sind die Kapazitäten erschöpft, und dann taucht der ganze Müll wieder auf: in Form von Giftfässern, die an die Küsten gespült werden; oder verzögert, erst über den Weg einer Nahrungskette sichtbar, als Robbensterben. Allmählich wird klar, daß man den Gift- und Atommüll nicht wirklich lagern kann, nicht der Menge nach, und nicht auf die Dauer, die er existiert. Klar ist, daß letztlich nicht der Müll verschwindet, sondern die Verantwortlichen, sobald die von ihnen transportierten Fässer wieder auftauchen. Als der italienische Giftmüll in Nigeria entdeckt wurde und das afrikanische Land mit Hinrichtung der Verantwortlichen drohte, verschwand lediglich der italienische Mittelsmann. Das Schicksal des Mülls aber liegt im Ungewissen. Italien jedenfalls will ihn nicht mehr haben. In den nordamerikanischen Städten spitzt sich die Situation z.T. schon dramatisch zu. Der Müll droht, Städte wie New York, Los Angeles, San Francisco oder Boston zu ersticken. Die Deponien sind überfüllt, und die Nachbargemeinden weigern sich, fremden Müll aufzunehmen. Der Müll hat nicht einmal Asylrecht. Anfang 1987 schloß die Stadt Islip auf Long Island ihre Müllkippe für Industrieabfälle, nachdem der Bundesstaat New York keine Erlaubnis zur Vergrößerung der Anlage gegeben hatte. Eine Abfallbeseitigungsfirma versuchte, den Müll auf anderen Deponien unterzubringen. Aber eine nach der anderen verweigerte die Annahme. Schließlich schifften die Müllunternehmer ihre Fracht Richtung Mexico ein. Von dort ging es weiter nach Belize. Aber nirgends bekam das Müllschiff Erlaubnis, seine Ladung zu löschen. Immer öfter tauchen Meldungen von Giftschiffen auf den letzten Seiten der Zeitungen auf, um uns das Frühstück für ein paar Wochen zu salzen. Die gesunkene Anna Broer mit ihren verschwundenen Giftfässern; die Vulkanus II, die durch Greenpeace an der Verbrennung ihrer Giftfracht gehindert wurde; die Petersberg, die im Schwarzen Meer nirgends mehr anlegen durfte, nachdem man radioaktive Strahlung in ihrer Ladung „harmlosen Bauschutts“ gemessen hatte. Immer öfter hören und lesen wir von gespenstischen Giftschiffen, die mit ihrer gefährlichen Ladung von einem Hafen nach dem anderen abgewiesen werden, um schließlich mitsamt ihrer Fracht in der Vergeßlichkeit der Medien und ihrer Benutzer wieder zu verschwinden. Die Vergeßlichkeit wird zur einzig möglichen Art, den Müll verschwinden zu lassen.


Wenn das Wort „Endlager“ an die Finalität der „Endlösung“ gemahnt, so ist das eine vorsätzliche Irreführung. Atommüll wird nur – für seine Zeit kurzfristig – aus dem Verkehr gezogen. Die Atomzeit hat längere Rhythmen als alles, was wir uns unter Verkehr vorstellen können. Wird der Atommüll tatsächlich vergessen, dann besteht auch die Gefahr, daß zukünftige Intelligenzen beim Graben in der Erde zufällig auf ihn stoßen. Sie könnten aber auch etwas ganz anderes finden. Nach der gleichen Methode wie Atom- und Giftmüll werden in Bergwerksstollen ja auch Kulturschätze versiegelt. Seit der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgütern bei bewaffneten Konflikten werden Milliarden von Mikrofilmaufnahmen luftdicht und korrosionssicher „geendlagert“. In der Bundesrepublik sind es jährlich 15 Millionen Aufnahmen, die in das Bergwerk „Barbara“ in der Nähe von Freiburg kommen. Die Stollen müssen also für alle möglichen Nachfahren, vom Roboter bis zum Halbaffen, so gekennzeichnet werden, daß sie unterscheiden können, ob es sich bei ihrem Inhalt um Kultur oder um Müll handelt. Hier setzt die Semiotik an. Sie befaßt sich damit, wie die soziale Kommunikation mit Hilfe bestimmter Zeichen die scheinbar unüberwindliche Barriere Zeit transzendiert. Sie wird gefragt, ob es möglich sei, eine Zeichenbeziehung zu legen zwischen dem, was sich nicht wandelt (dem Atommüll), und dem, was sich beständig wandelt (der menschlichen Kultur und Gesellschaft). Rückblickend muß festgehalten werden, daß alle Warnungen an die Nachwelt bislang nicht besonders erfolgreich waren. Sie machten im Gegenteil die Menschen neugierig. Die Herrscher von Ägypten, Syrien und Tibet hinterließen an ihren Grabmonumenten Bannflüche gegen diejenigen, die sie schänden würden. Die Geschichte des Grabraubes zeigt, daß alle Versuche, Eindringlinge – zu denen auch heutige Archäologen gehören – mit Mitteln der Kommunikation fernzuhalten, kläglich gescheitert sind. Die Warnung vor der Büchse der Pandora macht sie um so reizvoller.
 

Die Indianer Nordamerikas waren sehr wohl in der Lage, altes Wissen bis zu uns zu schicken, z.B. Mitteilung über tabuisierte Gebiete – in denen es Uranvorkommen gibt. Die Warnungen in ihren Prophezeiungen werden als Folklore abgetan. Hier hat das Rauschen die Botschaft fast vollständig zersetzt. Der Parasit – dieses Krümelmonster der Kanäle – hat wieder einmal gesiegt. Und auch unser anderer ständiger Begleiter, der Müll, wird die Oberhand behalten. Vergraben und mit Bannzeichen belegen – welch kindisches Gebaren! Kein ornamentales Gekritzel wird verhindern, daß der Müll wiederkehrt – nicht einmal eine Gesellschaft, die ihre Institutionen, Mythen, Wissenschaften, die DNS ihrer Lebewesen von Kopf bis Fuß au Müll einstellte. Das Salz wird ihn ausspucken, Meteore werden ihn freilegen, aus den Meeren wird er wieder aufsteigen. Aber am sichersten wird der Mensch, der noch jede Untat begangen hat, zu der er in der Lage war, sich nicht von Obelisken und von Märchen zurückhalten lassen.
 

„Irgendwo unter den Abfällen dieser Welt liegt der Schlüssel, der uns zurückbringen wird, der uns unsere Erde und unsere Freiheit wiedergeben wird.“ Diese Sätze läßt Thomas Pynchon in seinen Enden der Parabel den Zonen-Herero Enzian sagen. Enzian versucht, einem Kabbalisten gleich, die Welt auf ihren wahren, heiligen Text hin zu befragen. Zuerst meinte er, ihn in der Rakete entziffern zu können, bis ihm aufging, daß auch deren Zerstörungswerk noch Teil eines viel umfassenderen Plans war. In den Trümmerhaufen der Jamf Ölfabriken Werke AG erkennt Enzian, daß nichts zerstört wurde, daß es keine Ruine gibt, sondern daß alles nur sprunghaft, mit einer Geschwindigkeit, die die neuen molekularen Technologien brauchten, in einen arbeitsbereiten Zustand versetzt wurde. Im Schutt der Fabriken liest Enzian den Text der Technologie, die die Zerstörung ihrer überholten Bauten von vorneherein mit eingeplant hatte. Was wie Zerstörung aussieht, ist nur eine Vorbedingung der fälligen Neuzusammensetzung. So wächst sich das Monster aus, und wir verlieren Enzian aus den Augen; ihn, der gerade erst mit dem Schälen der Wahrheitszwiebel begonnen hat. Vielleicht hätte er, der im Schrott schon die Gestalt der zukünftigen Anlage entzifferte, in den bald schon wieder emsigen Städten die Handschrift der Vermüllung erkennen können; der Vermüllung, die auf einmal als der wahre Text der Technologie erscheint. War die Zerstörung nur Teil eines Plans der Neuzusammensetzung, so dienen diese Neuerung und wiederum deren Neuerung nur dem endgültigen Text, den man nur einmal enthüllen kann, dann aber gleich für alle Male. Dieser Text würde über die Menschheit geschrieben sein und ihr Schicksal besiegelt haben. Müllberge wären das archäologische Dokument seines vergessenen Autors.
 

Wir verabschieden uns mit einem Satz von Stanislaw Lem: „Er schaltete das Radio ab, wie man einen Müllschlucker zuklappt.“