Christian Unverzagt

Masse und Bewegung


zuerst veröffentlicht in: Arcade No. 1 (Amsterdam 1989),
Jaarboek van de Academie voor Ambulante Wetenschappen

 

 

 

 

Danach

Mit der Bewegung ist ein Zeit-Raum eigener Rechnung zu Ende gegangen. Ein Zyklus, der vielleicht irgendwann und irgendwie selbst zyklisch wiederkehrt? Oder war auch dieser Zeit-Raum nur ein Förderbandabschnitt im Strom der Zeichen, ein Spuk, der aus und vorbei ist und sich der Un-Zahl von Einmaligkeiten zugesellt hat, die nie mehr wiederkehren?

Jene, die dabei waren, müssen die verflossene Zeit der Präsenz Vergangenheit werden lassen. Geschichte? Oder „Jugendsünde“? Ein altes Problem taucht auf: das der Identität, sei es der politischen und/oder der persönlichen. Was läßt sich festhalten, von was muß man sich lösen? Die Revolutionäre, die tugendhaften Söhne und Töchter der Geschichtsepoche, waren bereit, sich fürs Leben zu zeichnen, um an einer Idee festzuhalten. Nicht körperlich und unauslöschbar wie die Stammeskrieger, die sich bei ihrer Initiation Pflöcke durchs Fleisch treiben ließen. Aber doch durch ein inneres Gelöbnis, das von gleicher Kraft sein sollte, um die Stürme wie auch die Windstillen des Lebens zu überdauern. Diejenigen, die diesen ewigen Eid irgendwann, aus welchen Gründen auch immer, als Kapitel ihrer Biographie beendet haben, wissen um seine Macht; ebenso wie die Folterer in den Verhörkellern rund um den Globus, die diesen Eid durch langsames Einbrennen in die Körper ihrer Widersacher zu brechen versuchen. Woher aber sollte jene Kraft des Festhaltens noch kommen, wenn der Glaube an die Geschichte vorbei ist? Nichts wird sich je einlösen. Dort, wo die Bewegten ihre metamorphe Kraft am nötigsten brauchten, erlischt sie, weil das Feedback durch die Anderen ausbleibt.

Und gar jene, die nicht dabei waren?! Was bleibt denen, bei denen sich die existenzielle Radikalität regt, ohne daß der Zeit-Geist so gnädig ist, vorbeizuschauen? Keiner gibt das Staffelholz der Geschichte an sie weiter. Die großen geschichtlichen Ereignisse, die Revolutionen, die siegreichen und die gescheiterten, die Generalstreiks, die Widerstandsbewegungen in besetzten Ländern – all das waren Ereignisse, an die sich auch im nachhinein anknüpfen ließ, weil sie nicht nur selbst großartig waren, sondern weil sie auch immer ein Versprechen auf etwas noch Großartigeres in sich trugen. Aber die Bewegung? Sie hat keine Nachfolger, denn jede Bewegung beginnt bei Null. Sie kann keinen Pfad durch die Zeit legen, der auch schon in die Zukunft vorausgebaut wäre.

Eine Zeitschleife hat sich geschlossen, nach der sich alles, was schon davor war, fortsetzt. Und dennoch ist etwas anders. Nicht der erneute Glaube an die Macht oder deren Dauer, der im nachhinein alles als selbstinnovativen Schub des Systems interpretieren ließe. Auch wenn Teile der Linken niemals von diesem unnützen, peinlichen und unwürdigen Gejammere über eine stets sich verschärfende staatliche Repression ablassen werden – das ist nur der alte Glaube an die eigene Ohnmacht. Was sich verändert hat, unterschwellig noch unter einer scheinbar wieder homogenen Oberfläche der Gesellschaft, ist das Verhältnis zur Zeit. Es gibt keine Geschichte mehr, die sich lenken ließe – es gibt keine „Vernunft“ oder auch nur eine politische Kraft, die z.B. den Giftausstoß der chemischen Industrie jemals bremsen könnte – aber es gibt auch keine Geschichte mehr, die den Horizont der Zeit besetzt hielte, um auf Ewigkeit alles im Projekt DES MENSCHEN münden zu lassen; an diesem Horizont lauert vielmehr das Ende der Dinge (zumindest so wie sie uns bekannt sind). Auch die beliebten historischen Jahrmärkte, auf denen die Unverlierbarkeit der Zeit vorgekaukelt wird, können den Sanduhr-Effekt nicht wieder vergessen machen. Auf einmal scheint es, daß auch die Zeit eine begrenzte Ressource ist und daß es mit allem ein Ende haben könnte.

Jede Zeit hat ihre eigene Metaphysik. Die der Moderne, des unaufhörlich sukzedierenden Fortschritts, war das „Noch nicht“. Die Dinge wurden unter dem Aspekt ihrer stetigen und unaufhaltsamen Vervollkommnung gesehen, ihre Perfektion war ihr transzendentaler Hintergrund. Nun aber kehren sich die Sichtweisen um, auf einmal lassen sich die Dinge von ihrem Ende her betrachten. Ein Blick taucht auf, der zum Ende vorausgeeilt ist, um von dort zu den Dingen zurückzukehren, wobei er sie nun von ihrer Rückseite her sieht. Längst wird die Zeit des Fortschritts von der ihres Endes überlagert; ungleiche Zeiten, in deren Interferenzfeld Davor und Danach umkehrbare Begriffe werden.

Die Ereignisse, die noch nicht stattgefunden haben, sind schon passiert. Es ist zu spät, die Wirkungen, auch wenn sie noch nicht eingetreten sind, noch aufhalten zu wollen. Mit diesem fatalen Ausblick auf die Zeiten, die kommen, sind Haltungen entstanden, die das Ende als Möglichkeit erspäht haben und bereit sind, alles auf seine Wirklichkeit zu setzen. Mit ihnen hält sich in einer Zeit, in der die Geschichte wieder Macht über den Lauf der Dinge beansprucht, der Ausblick auf ihr Desaster durch.

„Sozialismus oder Barbarei!“ war seit bald einem Jahrhundert immer wieder die ultimative Parole der Linken; und jedes Mal sollte es die allerletzte Chance sein, überhaupt noch einmal entscheiden zu können. Über Generationen und Generationen immer wieder fünf vor zwölf: entweder war die Zeit stehengeblieben oder aber die Uhr. Letztlich ist darüber die Zeit des Sozialismus abgelaufen. Er war die Utopie einer besseren Verwaltung der Systemdimension. Aber nachdem jener Punkt ohne Wiederkehr überschritten ist, der innerhalb des Sozialen keine Entscheidung zum Besseren mehr übrig läßt, hat er ausgespielt. Seine Horrorvision, die „Barbarei“, ist angesagt; und schon gibt es jene, die sich mit dem Schreckgespenst angefreundet haben und die bereit sind, die Möglichkeit als Chance zu ergreifen.

Es geht nicht mehr um perspektivische Orientierungen des Handelns – diese Orientierungen brauchen nur jene, die sie selbst schon längst nicht mehr anbieten können – sondern um die Bereitschaft, sich den Situationen, die kommen, zu stellen. Wer Zeit-Räume braucht, in denen er seine Phantasie schweifen und streunen lassen kann, mag sie nicht mehr in Utopia finden, sondern in Szenarios, die das Desaster durchspielen.

Der Ozean hat ein Gedächtnis von mehreren hundert Jahren. Seismische Ereignisse, tektonische Verschiebungen, Geburten unterseeischer Vulkane in zehntausend Metern Tiefe können ihre Auswirkungen erst Hunderte von Jahren später an der Meeresoberfläche auftauchen lassen. Das Absinken ganzer Küstenregionen mitsamt seiner Dörfer ins aufgepeitschte Meer kann seinen Auslöser in einer Zeit noch vor Besiedelung dieser Küste gehabt haben. So wie das Licht der Sterne uns erreicht, nachdem diese vielleicht schon vor Tausenden oder Millionen von Jahren erloschen sind, war alles schon längst passiert, bevor es eintrat. Was macht die Bürger und somit die Linken, die als einzige Standartenträger der bürgerlichen Geschichtshoffnung noch übrig geblieben sind, eigentlich so sicher, daß „unsere“ Gegenwart nicht eine Sammlung von Phänomenen ist, die nur noch wie zum Hohn aus einer längst vergangenen Epoche in unsere Zeit ragen, weil das Licht des Bewußtseins, das aufgeklärte Denken, sie nicht schneller transportieren kann? Was weigert sich eigentlich so hartnäckig anzunehmen, daß DIE GESCHICHTE, mit der DIE MENSCHHEIT ihre Macht über die Erde ausüben wollte, nur noch als Schimäre in das Selbstverständnis dieser Zeit hineinleuchtet? Der Lauf der Dinge ist längst zum Fatum geworden. Mögen die vermeintlichen Herren dieser Welt ruhig Konferenzen über das Ozon-Loch abhalten – stopfen werden sie es damit nicht mehr. Der Lauf der Dinge wird nicht mehr durch Entscheidungen im Bereich des Sozialen reguliert, höhere Spielebenen haben ihr Eingreifen signalisiert, da die Welt DES MENSCHEN nicht mehr synchron mit ihnen läuft. Das Desaster der Ordnung, die die Realität ausgeklammert hatte, hat bereits seine Vorboten ausgeschickt, auch in den Bereich des Sozialen. Die Bewegung war nichts anderes als eine solche desaströse Kraft. Sie hat nichts hinterlassen, was weitergeführt werden könnte oder müßte; aber vielleicht läßt sie sich als eine Art Vorbote verstehen, der von noch gewaltigeren Ereignissen kündet. Diese Botschaft hätte nicht den Sinn, das Kommende noch einmal abzuwenden, sondern ihm zu gegebener Zeit zuvorzukommen. Man liest die Zeichen anders, wenn man sie von ihrem Ende her versteht. Ihre höchste Auslegung wäre es wohl, sie irgendwann mit ihrem Geschehen eins werden zu lassen.

Die Ereignisse, die kommen, werden heftige Realitätseinbrüche sein. Gänzlich unpolitische Faktoren wie Viren, Erdbeben, Überschwemmungen, schließlich Nahrungsmittelverknappungen werden den Gang der Dinge bestimmen. Das Soziale des Systems ist in Gefahr – in der Gefahr, daß um diese Ereignisse herum autonome soziale Gebilde entstehen, die die politischen Karten der Welt zu Altpapier werden lassen. Das Soziale wird sich mit dem Schicksal neu arrangieren müssen.

 

Buchveröffentlichungen von Christian Unverzagt

demnächst erscheinen:

Südlich der Wolken. Auf der Suche nach dem anderen China

 

Alien Mensch. Vom Sondermüll zur Selbsterkenntnis

 

 Der Farben Land und Meer

 

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